Lesung
41. Literarischer Herbst 2023 - Dana Vowinckel - Gewässer im Ziplock
Veranstaltungsdetails
Avi steht in der Menge und versucht, sich zu sammeln, inmitten der lauten Gespräche um ihn herum. Er weiß, es wird ihm gelingen, sobald er Luft holt und die erste Strophe zum Schabbat anstimmt, als Kantor in einer Synagoge in Berlin. Viele tausend Kilometer entfernt, in Chicago, isst seine Tochter Margarita, zeitversetzt, ihr Frühstück. Widerwillig beißt sie in ein hartes Stück Kirsche in ihrem Joghurt und bekommt schon wieder Heimweh, sehnt sich nach Berlin, nicht zuallererst nach ihrem Vater, eher nach dem vertrauten Leben, der besten Freundin, ihrer Teenagerliebe. Doch, auch den Vater vermisst sie, den einzigen Menschen, der ihr verlässlich Geborgenheit gegeben hat, ihr ganzes fünfzehnjähriges Leben lang.
Bei den Großeltern in Chicago, wo sie jedes Jahr die Sommerferien verbringt, nervt sie sich durch die Tage und ist überzeugt, dass sie für die beiden keine Liebe empfindet. Wenig später sitzt sie im Flugzeug nach Jerusalem, auf dem Weg zu ihrer Mutter. Alles Weinen und Sträuben hat nichts geholfen. Großmutter und Vater haben beschlossen, dass jetzt ein Besuch dort anstehe. Alle paar Jahre müsse das sein.
Marsha hat Mann und Kind verlassen, als Margarita knapp zwei Jahre alt war. Aufgewachsen in Chicago, konnte sie Hannover einfach nicht mehr ertragen. Bevor der Leser sie als Rabenmutter abstempelt, sei angemerkt, sie habe sich innig gewünscht, dass Avi mit Margarita in die USA nachkommen würde. Das passierte aber nicht. Kennengelernt hatten sich die beiden in Israel, eine hungrige Zeit, denkt Avi im Rückblick. Er hat das Leben gierig aufgesogen damals, die Liebe, die Politik. Alles war wichtig, in Aufruhr, und er musste Stellung beziehen. Dabei wollte er nie eine große Rolle spielen, lieber einer von vielen sein, mit den anderen leben, sich ins Gebet versenken. In Deutschland bekam er, was er sich gewünscht hatte. Aber dieses satte Dasein hatte Marsha von ihm weggetrieben.
Er hat seine Tochter auf ein jüdisches Gymnasium geschickt, verlangt aber nicht von ihr, eine fromme Jüdin zu sein. Und Margarita? Manchmal geniert sie sich für ihn, sein etwas unbeholfenes Deutsch, seine langsame, bedächtige Art. Aber das bedeutet auch Nähe und Stabilität.
Das erste, was ihr von der Mutter in Jerusalem widerfährt, ist deren Abwesenheit. Ein Missverständnis über den Ankunftstag und sie ist nicht am Flughafen erschienen. Großes Drama am Telefon, aufgeführt zwischen Jerusalem, Chicago und Berlin. Eine gemeinsame Reise durch das Land bringt Mutter und Tochter einander näher, doch nicht so wie in manchen traditionellen Romanen, dass beide nach langer Trennung nun erkennen, was sie einander bedeuten. Sie teilen Klarsicht und scharfen Verstand, auch bei unterschiedlichen Ansichten. Das verbindet sie. Avi hat es einmal als Margaritas intellektuelles Erbe von Marsha bezeichnet. Doch das Konfliktpotenzial ist groß, wohl auch wegen Margaritas Situation als verlassenes Kind. Nichts wird harmonisierend geglättet an dieser Beziehung – und auch nicht an der zwischen Juden und Deutschen.
Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin geboren und studierte Literaturwissenschaft und Linguistik in Berlin, Toulouse und Cambridge. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde sie für einen Auszug aus dem vorliegenden Roman mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. 2023 wurde ihr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats zugesprochen.
Bei den Großeltern in Chicago, wo sie jedes Jahr die Sommerferien verbringt, nervt sie sich durch die Tage und ist überzeugt, dass sie für die beiden keine Liebe empfindet. Wenig später sitzt sie im Flugzeug nach Jerusalem, auf dem Weg zu ihrer Mutter. Alles Weinen und Sträuben hat nichts geholfen. Großmutter und Vater haben beschlossen, dass jetzt ein Besuch dort anstehe. Alle paar Jahre müsse das sein.
Marsha hat Mann und Kind verlassen, als Margarita knapp zwei Jahre alt war. Aufgewachsen in Chicago, konnte sie Hannover einfach nicht mehr ertragen. Bevor der Leser sie als Rabenmutter abstempelt, sei angemerkt, sie habe sich innig gewünscht, dass Avi mit Margarita in die USA nachkommen würde. Das passierte aber nicht. Kennengelernt hatten sich die beiden in Israel, eine hungrige Zeit, denkt Avi im Rückblick. Er hat das Leben gierig aufgesogen damals, die Liebe, die Politik. Alles war wichtig, in Aufruhr, und er musste Stellung beziehen. Dabei wollte er nie eine große Rolle spielen, lieber einer von vielen sein, mit den anderen leben, sich ins Gebet versenken. In Deutschland bekam er, was er sich gewünscht hatte. Aber dieses satte Dasein hatte Marsha von ihm weggetrieben.
Er hat seine Tochter auf ein jüdisches Gymnasium geschickt, verlangt aber nicht von ihr, eine fromme Jüdin zu sein. Und Margarita? Manchmal geniert sie sich für ihn, sein etwas unbeholfenes Deutsch, seine langsame, bedächtige Art. Aber das bedeutet auch Nähe und Stabilität.
Das erste, was ihr von der Mutter in Jerusalem widerfährt, ist deren Abwesenheit. Ein Missverständnis über den Ankunftstag und sie ist nicht am Flughafen erschienen. Großes Drama am Telefon, aufgeführt zwischen Jerusalem, Chicago und Berlin. Eine gemeinsame Reise durch das Land bringt Mutter und Tochter einander näher, doch nicht so wie in manchen traditionellen Romanen, dass beide nach langer Trennung nun erkennen, was sie einander bedeuten. Sie teilen Klarsicht und scharfen Verstand, auch bei unterschiedlichen Ansichten. Das verbindet sie. Avi hat es einmal als Margaritas intellektuelles Erbe von Marsha bezeichnet. Doch das Konfliktpotenzial ist groß, wohl auch wegen Margaritas Situation als verlassenes Kind. Nichts wird harmonisierend geglättet an dieser Beziehung – und auch nicht an der zwischen Juden und Deutschen.
Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin geboren und studierte Literaturwissenschaft und Linguistik in Berlin, Toulouse und Cambridge. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde sie für einen Auszug aus dem vorliegenden Roman mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. 2023 wurde ihr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats zugesprochen.
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